Was wir von anderen Kulturen über Nachhaltigkeit lernen können

Wir können so vieles von anderen Kulturen lernen – auch in puncto Nachhaltigkeit! Sicherlich stimmen Sie mir zu: Noch nie war das Thema Nachhaltigkeit so wichtig wie in der heutigen Zeit. Die Auswirkungen des Klimawandels werden immer deutlicher und Ressourcen zunehmend knapper. Um den Planeten und die Natur zu schützen, Ressourcen zu schonen und zukünftigen Generationen ein gutes Leben zu ermöglichen, ist in zahlreichen Bereichen ein Umdenken erforderlich. Ansätze aus anderen Kulturen können uns dabei helfen.

Jugaad: Innovative Lösungen für nachhaltiges Handeln

Mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft ist hierfür ein entscheidender Faktor und beeinflusst in erheblichem Maß den Verbrauch von Ressourcen und den Ausstoß von Schadstoffen. Um auf diesem Gebiet Fortschritte zu erzielen, bedarf es Innovationen. Wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2020 bestätigte, gibt es auf diesem Gebiet hierzulande noch erheblichen Nachholbedarf.

Gerade in Bezug auf Nachhaltigkeit können wir von der indischen Innovationskultur sehr viel lernen. Das in Indien gelebte Prinzip Jugaad bedeutet übersetzt „eine innovative und improvisierte Lösung, die auf Einfallsreichtum und Cleverness beruht“. Es verkörpert einen unternehmerischen und erfinderischen Geist, der auch mit widrigen Umständen klarkommt und den Status Quo im Sinne einer optimalen gesellschaftlichen Lösung stets in Frage stellt.

Bei Jugaad geht es darum, mit wenigen Ressourcen Lösungen zur Bewältigung von Problemen zu finden und aus den bestehenden Ressourcen das Beste zu machen. Das Ziel sind keine komplexen Produkte, die zeigen, was technisch machbar ist, sondern einfache Lösungen, die das Leben der Menschen besser machen und auf Überflüssiges verzichten. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen werden dadurch bestmöglich genutzt und die Bedürfnisse der Menschen dennoch erfüllt. Die Nachhaltigkeit der Lösungen verbessert sich dadurch immens. Jugaad beruht auf insgesamt 6 Prinzipien*:

1. In den Widrigkeiten die Chance sehen: Bei Problemen und Herausforderungen sollten wir unsere Energie nicht durch Meckern vergeuden, sondern sie als Chance zur Verbesserung sehen. Sie sind der Nährboden für neue Ideen und Innovationen

2. Mit weniger mehr erreichen: Es wird nur mit dem gearbeitet, was vorhanden ist und Problemlösungen werden genau darauf zugeschnitten

3. Flexibel denken und handeln: Statt eingefahrenen Denkmustern zu folgen, werden Tatsachen und Lösungen hinterfragt und bestehende Produkte immer wieder verändert. Die Arbeit ist ergebnisoffen und Lösungen werden von der Zielgruppe aus erdacht

4. Einfache Ideen sind oft die besten: Ein Produkt besitzt nur das, was nötig ist, um die Anforderungen der Kund:innen zu erfüllen. Perfektion oder Funktionen ohne Kundennutzen sind nicht notwendig.

5. Minderheiten mit einbeziehen: Jugaad berücksichtigt bei Lösungen auch Minderheiten und Randgruppen. Durch diese Gleichberechtigung und Gleichbehandlung entstehen auch im gesellschaftlichen Zusammenleben mehr Harmonie und Nachhaltigkeit.

6. Folge deinem Bauchgefühl und dem Herzen: Entscheidungen werden nicht auf der Grundlage von Zahlen und Daten gefällt. Es wird auf die Bedürfnisse der Kund:innen, auf die Intuition und das Herz vertraut. Durch die Distanz zu rationalen Lösungen entsteht das Potenzial für Kreativität und neue Ansätze. In Unternehmen erhält dabei jede:r Mitarbeiter:in den Raum, um neue Ideen zu entwickeln und einzubringen.

Lagom: Das richtige Maß finden

Doch nicht nur die Wirtschaft hat einen Einfluss auf die Nachhaltigkeit, auch jede:r Einzelne für sich. Mit den Entscheidungen, die wir tagtäglich treffen, können wir die Natur, die Ressourcen und das Klima unseres Planeten entweder unterstützen oder schaden. Auch auf diesem Gebiet können wir von anderen Kulturen sehr viel lernen.

So leistet etwa die schwedische Lebensweise Lagom einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit im Alltag. Lagom bedeutet so viel wie „das richtige Maß“, also nicht zu viel und nicht zu wenig. Dieses Prinzip gilt für alle Lebensbereiche: auf der Arbeit, beim Essen und auch beim Konsum. Es geht darum, die richtige Balance zu finden, die letztlich auch am glücklichsten macht. Die hedonistische Tretmühle oder Immer-Mehr-Wollen tragen langfristig nicht zu mehr Glück bei. Lagom steigert neben der Nachhaltigkeit also auch direkt das empfundene Lebensglück.

Die dänische Lebensphilosophie Hygge geht in eine sehr ähnliche Richtung: auch hierbei wird das Glück nicht an materiellen Gütern oder „höher, schneller, weiter“ festgemacht, sondern an einer wohligen Atmosphäre und einem friedvollen Lebensgefühl, das im Hier und Jetzt präsent und dankbar wahrgenommen wird. Unabhängig davon, welches der beiden Prinzipien Sie betrachten – wer verstanden hat, dass Glück nicht an materielle Güter gekoppelt ist, lebt automatisch ein nachhaltigeres Leben.

Sowohl Lagom als auch Hygge zeichnen sich genau wie das finnische Sisu durch eine besondere Naturverbundenheit aus. Zeit in der Natur zu verbringen und die Natur durch Campen, Outdoor-Sport oder dem Sammeln von Wildblumen, Kräutern und Co. besonders intensiv zu erleben, gehören zum Leben in Skandinavien mit dazu. In vielen skandinavischen Ländern ist das mit dem Jedermannsrecht sogar im Gesetz verankert: Außer auf Privatgrundstücken darf jede Person dort zelten, Fahrradfahren, Skifahren und wandern, wo immer sie möchte. Diese besondere Verbundenheit und Beziehung zur Natur führt dazu, dass die Menschen von sich aus im Einklang mit der Natur handeln und sich für deren Schutz und Bewahrung einsetzen.

Lateinamerika: Leben in Harmonie mit der Natur

Am fortschrittlichsten in Bezug auf ein nachhaltiges Leben sind die Länder in Lateinamerika. Dort unterstützen sogar Politik und Rechtsprechung mit weitreichenden Massnahmen nachhaltiges Denken und Handeln. Das dortige Lebensprinzip buen vivir (in der Sprache der indigenen Völker der Anden sumak kawsay genannt) bezeichnet ein Leben in Gleichgewicht und Harmonie mit der Natur. Es basiert auf dem Grundgedanken der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit aller Lebewesen untereinander: schadet man der Natur, schadet man auch sich selbst. Schützt man die Natur, schützt man sich selbst. Die Natur wird dabei als ein eigenes Wesen angesehen, das dem Menschen gleichgestellt ist.

Dieser Gedanke wird in Lateinamerika aktiv im Alltag gelebt. So sind die Rechte der Natur in Ecuador seit 2008 in der Verfassung verankert und können vor Gericht eingeklagt werden. Bolivien, Uganda, Panama und Chile sind diesem Beispiel gefolgt. Groß angelegte Projekte können somit nicht einfach die Rechte der Natur übergehen, sondern müssen bestimmten Richtlinien folgen.

Ein Best Practice Beispiel, diese Prinzipien in eine nachhaltige Politik umzusetzen, ist Costa Rica. Dort werden nahezu 100% des Energiebedarfs aus nachhaltigen Quellen gedeckt und nach einer großflächigen Abholzung des Regenwaldes wurde in weniger als 30 Jahren von 21 Prozent bewaldeter Fläche auf 52 Prozent aufgeforstet. Auch der Tourismus wird nachhaltig angegangen und bis 2050 möchte das Land klimaneutral sein.

Diese Beispiele zeigen, dass es sehr wohl möglich ist, Nachhaltigkeit und Naturschutz wirksam in die Politik und Rechtsprechung zu verankern. Ausschlaggebend dafür sind jedoch nicht die einzelnen Maßnahmen, sondern das Bewusstsein, aus dem diese Maßnahmen resultieren. Während die Natur sowie das Leben in und mit der Natur in Lateinamerika omnipräsent sind, haben viele Menschen hierzulande den Kontakt zur Natur immer mehr verloren. Und was man nicht kennt und wertschätzt, will der Mensch auch nicht schützen.

Die verschiedenen Konzepte zeigen: jede:r Einzelne ist dazu aufgerufen, offen für neue Denkweisen zu sein und sich mit der Natur und deren Bedeutung für unser Leben zu beschäftigen. So entwickelt sich eine entsprechende Wertschätzung. Eine solche Grundeinstellung ist notwendig, um das Thema Nachhaltigkeit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene langfristig lösen zu können.

*Quelle: Radjou, Navi, Prabhu, Jaideep, Ahuja, Simone: Jugaad Innovation: Think Frugal, Be Flexible, Generate Breakthrough Growth, Jossey bass/Wiley, 2012.

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