Was wir von Kanada über die Einwanderung von Fachkräften lernen können

Der Fachkräftemangel bremst die deutsche Wirtschaft aus. Das schlägt sich sowohl in einer Unterbesetzung in Bereichen des alltäglichen Lebens wie Handwerk, der Dienstleistungsbranche oder der Altenpflege nieder als auch in der Innovationskraft des Landes. Das Problem ist mittlerweile gravierend: Ende 2022 zählte die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB fast 2 Millionen unbesetzte Stellen (1).

Die Tendenz in der Zukunft ist steigend, da durch den demografischen Wandel zunehmend Fachkräfte in Rente gehen, aber zu wenige nachrücken. Um diese Lücke zu schließen, braucht es dringend Fachkräfte aus dem Ausland.

Der Flaschenhals sind dabei nicht die Fachkräfte an sich, denn die sind mehr als ausreichend vorhanden. Auch der Wille zum Einwandern ist nicht das Problem, da Deutschland international als attraktives Land zum Leben gilt. Die Hürde liegt in unseren Gesetzen und Regelungen zur Einwanderung begründet. Diese sind häufig viel zu kompliziert und Abschlüsse sowie Berufserfahrung aus dem Ausland werden häufig nicht in Deutschland anerkannt.

Um dieses Problem zu lösen, braucht es also eine Änderung der Einwanderungsgesetze. Mit der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes im Juni 2023 wurde auf diesem Gebiet ein erster Schritt getan. Nun wurde am 7. Juli das neue Gesetz verabschiedet. Kanada, dessen Einwanderungsquote in der Großstadt Toronto beispielsweise 51 Prozent beträgt, kann uns hierfür als Orientierung dienen. Was wir von der Einwanderungspolitik in Kanada lernen können, möchte ich in diesem Artikel vorstellen.

Punktesystem als Basis

In Kanada wird nicht anhand einzelner Abschlüsse bestimmt, ob eine Person als Fachkraft zur Einwanderung qualifiziert ist. Es gibt hierfür ein eigenes Punktesystem, in dem einwanderungswillige Bewerber:innen für ihre Sprachqualifikation, Berufserfahrung, ihre Ausbildung und ihr Alter Punkte erhalten. Wird eine bestimmte Punktzahl erreicht, ist die Person für die Einwanderung qualifiziert.

Auf diese Weise können mangelnde Sprachkenntnisse beispielsweise durch Berufserfahrung kompensiert werden und junge Menschen erhalten zusätzliche Chancen. Das macht es für die Bewerber:innen einfacher, ihre Fähigkeiten und Erfahrungen zum Einwandern einbringen zu können.

Die verschiedenen Kategorien erlauben es zudem, Menschen zu finden, die gut in die Gesellschaft passen und denen die Integration leicht fällt. Denn erfolgreiche Integration bedeutet nicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu vermitteln, sondern eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen, die sowohl in beruflicher als auch in menschlicher Hinsicht auf einem hohen Level ist. Die Lebensqualität und das Miteinander in der multikulturellen Gesellschaft in Kanada zeigen, dass dieses System sehr gut funktioniert.

Noch weniger Hindernisse durch Sonderprogramme

Für Bewerber:innen mit besonders hohen Qualifikationen, die bereits einen bestehenden Arbeitsvertrag haben, läuft der Prozess noch schneller. Mit dem sogenannten Express Entry erhalten sie direkt eine Aufenthaltserlaubnis, ohne die Kriterien des Punktesystems erfüllen zu müssen. Um sprachliches und kulturelles Wissen zu fördern, stehen im gesamten Land kostenlose Schulen zur Verfügung.

Durch das direkte Einbeziehen der Arbeitgeber:innen lassen sich offene Stellen bedarfsgerecht mit Menschen aus anderen Ländern füllen. Denn das Einwandern erfolgt dann nicht spekulativ auf Basis eines angenommenen Bedarfs an Arbeitskräften in der Zukunft, sondern auf Basis konkreter offener Stellen. Viele Provinzen und Hochschulen verfügen zudem über eigene Programme, die eine ähnliche bedarfsgerechte Besetzung von Vakanzen mit Fachkräften aus dem Ausland ermöglichen.

Verbesserungspotenzial in der Anerkennung von Qualifikationen und Erfahrung

Doch auch wenn wir vom kanadischen System vieles lernen können, ist es noch lange nicht perfekt. So werden Abschlüsse, Qualifikationen und Erfahrung aus europäischen Ländern im Punktesystem ohne große Hürden anerkannt. Bei Ländern außerhalb der EU funktioniert die Anerkennung jedoch weniger reibungslos. Dadurch enden viele hochqualifizierte Menschen, die in ihren Heimatländern als Ärzt:innen, Anwält:innen oder Ingenieur:innen gearbeitet haben, in Kanada als Taxifahrer:innen oder in ähnlichen Positionen. Das Wissen, die Erfahrung und die Fähigkeiten sind zwar vorhanden – die Anerkennung hinkt jedoch. Das ist der Hauptgrund dafür, dass rund 20 Prozent der Einwanderer Kanada nach einiger Zeit wieder verlassen.

Auch von diesem Fehler können wir lernen. Denn es reicht nicht aus, Abschlüsse und Berufserfahrungen nur aus einer Handvoll Ländern zu akzeptieren. Es ist notwendig, die Qualifikationen in möglichst vielen Nationen zu prüfen, um es vielen Fachkräften zu ermöglichen, hierzulande Fuß zu fassen.

In Kanada arbeitet man daher auch weiter daran, dieses System zu verbessern. Diese Bemühungen sind dabei nicht uneigennützig. Die Kanadier:innen haben schon sehr früh erkannt, dass Einwanderung die Lösung für den dortigen Fachkräftemangel darstellt und ein wichtiges Element einer erfolgreichen Gesellschaft und Wirtschaft ist.

Diese grundsätzliche Offenheit und Herangehensweise an das Thema sollten wir uns auch hierzulande zu Eigen machen. Denn die Einwanderungspolitik ist keine einmalige Entscheidung, sondern ein lebendiger Prozess, der immer wieder an die aktuellen Erfordernisse angepasst werden darf.

Die Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes ist hierfür ein erster Schritt. Weitere Anpassungen, die die Anerkennung von Abschlüssen und Erfahrungen aus anderen Ländern vereinfachen und auch den Einwanderungsprozess selbst weniger kompliziert gestalten, sind in jedem Fall notwendig. Auch wir als Gesellschaft dürfen uns bemühen, durch die Ausbildung von interkultureller Kompetenz und Wissen über Kulturen eine möglichst attraktive Nation für Fachkräfte aus aller Welt zu werden. Denn von einer diversen und kompetenten Gesellschaft, die über ausreichend Talente verfügt, profitiert letztlich jede:r einzelne von uns.

Quellen:

(1): https://iab.de/presseinfo/ergebnisse-der-iab-stellenerhebung-fuer-das-zweite-quartal-2022-offene-stellen-erreichen-mit-193-millionen-erneut-ein-allzeithoch/

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